Call For Papers: Fake & Fiktion

Kurz und schmerzlos: Das Thema der kommenden Ausgabe ist der Fake, oder genauer: Sein Verhältnis zum literarisch fassbareren Begriff der Fiktion. Was ist der Fake, was kann/macht/will er im Text – und was grenzt ihn ab von der Fiktion? Fragen stellen sich nach dem Nährboden sowie dem Resonanzraum des Fakes als ein Textwerkzeug – und in welchem Kontext er stattfinden muss, um als Mittel im Text oder als Finte überhaupt zu funktionieren.

Einsendeschluss ist: der 25. August 2017
Per Mail an: redaktion@metamorphosen-magazin.de

Wir sind gespannt!

Marktleiterminiaturen

In nur wenigen Tagen erscheint unsere neue Ausgabe über »Arbeit«. Aus diesem Anlass lässt Chefkolumnist CHRISTIAN WÖLLECKE in vier Miniaturen seine Zeit als Lidl-Marktleiter Revue passieren.

Brotregal 

In den Anfangsjahren sind die monochromen Metallregalbretter vielleicht blau. Aber irgendwann kommt der Punkt, da will der Kunde ein Gefühl dazu: Kussi Kussi. So heißt das Holzimitat, die Folie, die aufgeklebt wird. Kunden lieben Holz, sie sehen die guten Dinge gern. Obst und Gemüse kriegen spezielles Licht, das Brot, gebacken aus Mehl, Hefe, Salz, Speiseöl, Invertzuckersirup und ein paar Emulgatoren liegt in Plastiktüten auf Metallböden, die aussehen wie Holzbretter. Raschelnd fliegt Laib um Laib aus den Kisten. Gut Frielingshof: Weltmeisterbrot, Vollkornsonne, Fitnessbrot, Knolli-Brot, Roggenkruste, Weißbrot, Weizenschnittbrot.

Schnelldreher 

Eine Kilo-Zuckerpackung ist ein Ziegel. Hans Blumenberg: Arbeit am Mythos; diesen Backstein werden wir lesen. Der Zucker liegt schwerer in der Hand, aber er geht schneller weg. Die Leute suchen ihn verzweifelt im Laden. Man meldet das in den ersten Tagen. Der Chef nimmt einen grienend zur Seite: »Wer viel herumrennt, findet auf einmal Dinge, von denen er gar nicht wusste, dass er sie braucht.« Dann hebt er den Zeigefinger. »Was aber nur für die Kunden gilt.« Der Zucker wird palettenweise vorgefahren. Er steht an der Kasse beim Mehl und den Eiern. Das Salz steht bei den Nährmitteln, im dritten Gang. Ich haue dreißig Kolli Salz in unter einer Minute in die unterste Regalebene: Arbeit am eigenen Mythos.

Am ersten Tag

bekommen Azubis vielleicht einen Blumenstrauß. Oder am letzten. Er weiß das nicht genau. Ein Foto hat er gesehen, auf dem er eine Zuckertüte in der Hand gehalten hat. Aber geglaubt hat er das nie. Er ist kein Azubi, er studiert jetzt. Auf einem kleinen gelben Zettel stehen Orte wie Rudolstadt, Saalfeld, Jena. Der Chef lässt sich entschuldigen, lässt den nagelneuen Studenten Testkäufe machen. Der Student versucht, Kassiererinnen reinzulegen. Dinge im Wagen zu lassen. Zu klauen, aber so zu klauen, dass man es merken kann. Es ist wie beim Lotto: Er landet gleich im ersten Markt einen Treffer, dann verlässt ihn das Glück. Später, vielleicht ein Jahr später, weiß er Bescheid: Die Maschinerie des Marktes – Telefonkette. Die Neuigkeit springt von Markleiterin zu Marktleiterin, Personenbeschreibung, Kfz-Kennzeichen, alles. Er und sein Chef – allein gegen die Untergebenen. Vom ersten Tag an.

Der Pilzfan 

Elvira weiß, was mit dem Pilzfan los ist, weil ihre Mutter die Mutter des Pilzfans kennt. Der Pilzfan heißt Klaus, und manchmal versucht er, den Verkäuferinnen zuzulächeln, wenn er Paletten von Dosenchampignons auf das Band stapelt. Aber Elvira hat schon die Desinfektionstücher in der Hand, da kann sie nicht lächeln. Der Pilzfan kauft auch frische Pilze, aber nicht so viele, er züchtet selbst. Das weiß ich, weil ich mal mit ihm ein Bier in Zeulenroda getrunken habe. Er hatte ein Terrarium gekauft über Ebay Kleinanzeigen und wollte es abholen. Seitdem weiß ich auch, dass Klaus sich als ganzheitlicher Typ sieht. »Die Pilze tun gar nichts, die sind friedlich«, sagte er. Darum also desinfiziert Elvira immer gleich alles, wenn der Pilzfan da war. Und ich hole neue Pilze aus dem Lager zum Auffüllen, aber nur die Dosen mit den kleinen, runden Köpfen, erste Wahl.

Illustration: Luise Hesse

Die Miniaturen sind ein Auszug aus einer größeren Sammlung, die momentan erweitert und überarbeitet wird.

Alle meine Ex-Freunde

Alle meine Ex-Freunde

Radikal autobiographisches Schreiben heute

von Marc Degens

In seiner Serie »Removed« zeigt Eric Pickersgill Fotos von Menschen, die auf ihre Smartphones schauen, auf denen die Geräte allerdings retuschiert wurden. Es sind Bilder von intimer Nähe. Auf einem liegen eine Frau und ein Mann Rücken an Rücken unter einer Bettdecke und starren in ihre leeren Hände. Die Blicke sind konzentriert, doch die digitalen Welten sind verloren, wodurch die Szenerie etwas Groteskes, Verstörendes und Trauriges bekommt.

Die Texte, die die Personen auf ihren Geräten gelesen haben könnten, versammelt diese Ausgabe der metamorphosen. Es sind Gedichte, Erzählungen und Journale, die fast alle auf Webseiten und Blogging-Plattformen veröffentlicht wurden und dort zum jetzigen Zeitpunkt im englischsprachigen Original auch noch nachzulesen sind. Die Mehrzahl ihrer Autoren wird mit der sogenannten Alt-Lit-Bewegung assoziiert. Der Begriff kam 2011 auf und ist eine Abkürzung für »alternative literature«. Das eigene Leben steht bei Alt Lit im Zentrum des Schreibens. Die Texte verzichten in der Regel auf Fiktion, sind oft sehr privat und thematisieren den eigenen Alltag, Beziehungen, Drogenerlebnisse, Sex- und Lektüreefahrungen. Sie entstehen meist auf dem Computer oder auf dem Smartphone und werden auf Blogging-Plattformen wie Tumblr und WordPress oder in Sozialen Netzwerken wie Twitter und Facebook veröffentlicht. Auf die Textgestalt hat das digitale Schreibgerät einen wesentlichen Einfluss. Posts, Tweets, Verse oder Kommentare sind manchmal nur zwei, drei Buchstaben lang, bestehen aus technischen Abkürzungen, Emoticons oder URLs. Auch die Prosa neigt zur Kürze und ist geprägt von klaren, einfachen Sätzen, die mitunter die Schreibgewohnheiten aus Chatdialogen nachahmen. Texte greifen auf die Listenform zurück, die Sprache ist auf ein Minimum reduziert und in ihrem extremen Minimalismus lesen sich manche Passagen wie Kopierfehler:

„Thank you for the awkward situation“, Andrew says. „What?“ Matt says. „Thank you for the awkward situation“, Andrew says. „What?“ Matt says. „Thank you for the awkward situation“, Andrew says.

Der Dialog stammt aus Tao Lins erstem Roman »Eeeee Eee Eeee«. Lin gilt als Pionier der Alt Lit und hat mit seinen frühen Gedichtbänden, Kurzgeschichtensammlungen und ersten beiden Romanen zwischen 2006 und 2010 die Strömung thematisch und formal entscheidend geprägt. Bekannt wurde er zudem als Kleinverleger, Filmemacher und spektakulärer Selbstpromoter. Auf der Webseite Muumuu House versammelte er zudem Erzählungen, Gedichte oder ausgewählte Tweets von nahestehenden Autoren. In ihrer schonungslosen, oft mit distanzierter Stimme erzählten Drastik erinnern viele Texte an William S. Burroughs semi-autobiographischen Heroinroman »Junk« (1953), einem klassischen Werk der Beat-Generation, der nach Allen Ginsberg »engelköpfigen Hipster«. Auf Ginsbergs epochales Gedicht »Howl« nimmt wiederum die mit Alt Lit assoziierte Dichterin Luna Miguel Bezug:

I have also seen the best minds of my generation
destroyed by the emoticon.
I have seen their inexpensive faces.
I have read their photocopied poems.
I do not know their violence
but I sense a new howl.

Für Aufsehen in der New Yorker Literaturszene sorgte 2011 die auf Muumuu House veröffentlichte Kurzgeschichte »Adrien Brody« von Marie Calloway, eine Schlüsselerzählung, in der die Autorin ihr Verhältnis mit einem vierzigjährigen Redakteur schildert. »Adrien Brody« ist eine provokante Meditation über sexuelle Abhängigkeit, Emanzipation und politisches Bewusstsein mit pornographischen Elementen, deren Stil stark von Lin beeinflusst wurde, der auch selber in der Erzählung als Figur mit Klarnamen auftaucht. Der Text steht in der Tradition einer Literatur des Verrats, wie man sie von anderen radikal autobiographischen Autoren wie Chris Kraus (»I love Dick«) oder Karl-Ove Knausgård (»Min Kamp«) kennt, die oft ungefragt ihr komplettes Umfeld zum Gegenstand ihrer Literatur machen. Im Zuge des Skandals wurde die Autorin für ihre Erzählung im Internet beschimpft und erhielt sogar Morddrohungen.

Obwohl zahlreiche mit Alt Lit assoziierte Autoren in New York leben und die Stadt oft als Bezugspunkt und Handlungsort vorkommt, ist Alt Lit eine internationale Erscheinung. Für die Kommunikation und den Vertrieb ist das Internet unerlässlich. Das der Alt Lit verpflichtete, monatlich erscheinende PDF-Literaturmagazin »Shabby Doll House« wird von drei Autorinnen redigiert, die auf drei Kontinenten, in Europa (Lucy K Shaw), Nordamerika (Sarah Jean Alexander) und Australien (Stacey Teague) angesiedelt sind. Viele Autorinnen und Autoren dieser Ausgabe sind selbst Plattformbilder und betreiben Editionen in Kleinverlagen wie Elizabeth Ellen (SF/LD Books), Webmagazine wie Beach Sloth oder Kleinstpressen wie Spencer Madsen (Sorry House), in denen fremde wie auch eigene Werke erscheinen. Auch hier gibt es Berührungspunkte zu älteren autobiographisch schreibenden Autoren, die wie Chris Kraus (Semiotext(e)) oder Karl-Ove Knausgård (Pelikanen) eigene Kleinverlage betreiben. Der Wunsch, Leben in Literatur auszustellen, beschränkt sich offenkundig nicht auf eigene Texte, sondern bezieht auch Werke anderer Autoren mit ein.

Alt Lit ist eine Globalisierungserscheinung. Das verbindende Mittel sind globalisierte Erlebniswelten (Einkaufsmalls, Fastfood-Ketten, Franchiseunternehmen) und die englische Sprache, die im Fall der niederländischen Autorin und Kleinverlegerin Nadia de Vries anstelle der Muttersprache als Literatursprache gewählt wird. Die Literaturarbeit beschränkt sich nicht nur auf das Schreiben, sondern sucht nach Möglichkeiten der Vernetzung; die Autoren experimentieren mit alternativen Vertriebs- und Veranstaltungsformen. Sie treffen sich in der »Mellow Pages«-Leihbibliothek in New York mit über 4.500 Titeln aus Klein- und Independent-Verlagen, organisieren Lesungen, betreiben wie Stacey Teague die »subbed in«-Literaturgesellschaft in Sydney oder engagieren sich wie Guillaume Morissette in dem von jungen Dichtern in Montreal gegründeten Kleinverlag Metatron, der jährlich eine Buchveröffentlichung als Hauptpreis eines Literaturwettbewerbs auslobt. Diese gemeinsamen Aktivitäten sind für den Austausch unter den Autoren oft wichtiger als formale Gemeinsamkeiten zwischen den Texten, überdies stehen sie durch Chat- und Kommentarfunktionen in einem sehr direkten Verhältnis zum Leser.

Tao Lins zweiter Roman trägt den Titel »Richard Yates«, »ohne dass man nach der Lektüre zwingend sagen könnte, warum dem so ist«, schreibt Rainer Moritz in seinem Buch über den im letzten Jahrzehnt wiederentdeckten amerikanischen Schriftsteller. »Yates’ Bücher tauchen bei Tao Lin nur sporadisch auf; eines von ihnen dient als Mousepad.« Lins Berufung bezieht sich allerdings auf etwas Tiefgründigeres, das als Folie unter seinem Roman liegt: Es ist Yates’ Forderung nach schriftstellerischer Aufrichtigkeit, die Blake Baileys monumentale Yates-Biographie »A Tragic Honesty« aus dem Jahr 2003 im Titel führt.

Eine andere Spur führt zur New Sincerity, einer interdisziplinären Kunstrichtung, deren Werke sich durch Ernsthaftigkeit und einen übersensiblen Realismus mit romantischen, utopischen und surrealen Elementen auszeichnen. Hierzu zählen Filme von Charlie Kaufman und Michel Gondry, die Musik von Devandra Banhart und The Moldy Peaches, die Comics von Gabrielle Bell und Lisa Hanawalt oder die literarischen, filmischen und künstlerischen Arbeiten von Miranda July. Alt Lit wirkt wie eine Spielart dieser Richtung, geschrieben von einer jüngeren Generation, deren Literatur auf digitalen Schreibgeräten entsteht und deren Blick skeptisch, ironisch und distanziert ist. David Foster Wallace gilt als Stammvater der New Sincerity und Spencer Madsens erster selbstverlegter Gedichtband trägt als Klappentext einen Rezensionsauszug aus der Besprechung der New York Times von Wallace‘ Epochenroman »Infinite Jest«. Auch Megan Boyle bezieht sich in einem YouTube-Clip auf Wallace und hat Ausschnitte aus einem Fernsehinterview mit ihm zu einem dreieinhalbminütigen Nachdenken, Stammeln und Hadern zusammenmontiert.

Wie bei Yates beschränkt sich die Auseinandersetzung nicht nur auf literarische Aspekte, sondern bezieht auf subtile Art auch die Wirkungsgeschichte und die tragischen Lebensumstände mit ein. Im Falle von Yates den nachlassenden schriftstellerischen Erfolg und die Alkoholkrankheit am Ende seines Lebens, im Falle von Wallace seine Depression, die 2008 schließlich zu seinem Suizid führte.

Wie viele radikal autobiographische Schriftsteller sind Alt-Lit-Autoren auch häufig extreme Zeitdokumentaristen. Im März 2013 begann Megan Boyle mit ihrem »Liveblog«-Projekt auf Tumblr, eine »schmerzvoll aufrichtige und rohe Aufzeichnung eines menschlichen Lebens«, wie die Schriftstellerin Juliet Escoria schrieb. Digitale Aufzeichnungstechniken führen zu neuen Möglichkeiten der Zeitdokumentation und Alt Lit weitet den Textbegriff aus und bezieht auch Tweets, Videos, Selfies und Bildschirmfotos in die Literaturproduktion mit ein. In seiner Dokumentationssucht erinnert Boyles Liveblogging an Georges Perecs »Versuch einer Bestandsaufnahme aller flüssigen und festen Nahrungsmittel, die ich im Verlauf des Jahres 1974 hinuntergeschlungen habe«. Auch mit der Philosophie des Uncreative Writing von Kenneth Goldsmith gibt es Überschneidungen: Goldsmith legte mit seinem Buch »Day« eine 836 Seiten lange, eng bedruckte wortgetreue Abschrift der New-York-Times-Ausgabe vom 1. September 2000 vor. 2015 unterrichtete er an der Universität von Pennsylvania den Kurs »Wasting Time on the Internet« und pries in seinem gleichnamigen Buch das Zeitverschwenden im Internet als Quelle künstlerischer Inspiration.

Wenn man sich einflussreiche Avantgardegruppen wie Dada oder die Beats anschaut, fällt auf, dass den Kern der Bewegung eine kleine Gruppe von gut miteinander bekannten Personen bildete, die sich oft in jungen Jahren kennenlernten. Alt Lit stellt in dieser Hinsicht keine Ausnahme dar, unterscheidet sich allerdings insofern von früheren Gruppen, als dass durch die Internetkommunikation die regionale Nähe für die Gruppenbildung heute eine weniger wichtige Rolle spielt. Die Stil-Vielfalt innerhalb der Alt Lit ist enorm. Die Texte stammen von Hochschulabsolventen, Studienabbrechern und Autodidakten und in der Alt Lit treffen amateurhafte und akademische Schreibweisen aufeinander. Dadurch, dass das Publizieren im Internet oft impulsiv geschieht und Zwischeninstanzen wie Lektoren oder Redakteure meistens fehlen, behalten die Texte häufig ihre wilde, dilettantisch anmutende Form. Die Grammatik ist schief, die Zeitformen geraten durcheinander, einige Texte strotzen vor Rechtsschreibfehlern und Buchstabendrehern. Gleichzeitig führt diese ungefilterte Spontaneität aber auch zu einer großen Experimentierfreude und inhaltlichen Radikalität und Ehrlichkeit, die als das Hauptziel beim Schreiben angestrebt wird.

I talked to him about my writing, and how I was afraid to publish it.
»I feel like they would edit my writing so it would be technically better, but less honest and expressive.«
»Yeah, but I think you can find a balance between those things.«
»But I’m not interested in a balance.«
(Marie Calloway, Adrien Brody)

In seinem vierten, semi-autobiographischen Roman »Taipei« geht Tao Lin mit drei Freunden, die alle auch schreiben, ins Kino und die vier twittern unter Heroineinfluss gemeinsam über den X-Men-Film »First Class«. Lin zitiert aus den Tweets und über den Hashtag #xmenlivetweet lässt sich der reale Tweet-Dialog der vier Personen komplett nachlesen. Die Romanhandlung setzt sich damit außerhalb des Buches in der Timeline der vier Autoren fort, zur Roman- und Twitter-Zeit kommt sogar noch eine dritte zeitliche Ebene hinzu, die Filmzeit, in der man die Tweets parallel zur Zeitachse des Spielfilms Szene für Szene nachvollziehen kann. In solchen Momenten zeigen sich die aufregenden Möglichkeiten, die ein multimediales, medienübergreifendes Schreiben für das Aufbewahren von Zeit bieten, und mit denen die Autoren der Alt Lit erfolgreich experimentieren.

Typisch für die Kultur im Internet, sind die Strukturen der Alt Lit unterfinanziert. In den Texten herrscht ein starker Alltagsbezug vor. Alt Lit hat zu einer Gedicht-Renaissance geführt, doch kurze Formen haben es schwer auf einem Buchmarkt, auf dem Gedichtsammlungen und Erzählungsbände eine untergeordnete Rolle spielen. Das Schreiben dient vor allen Dingen als private Bereicherung, wendet sich im zweiten Schritt an die Leser und erst im letzten an die Buchkäufer. Wie die meisten radikal autobiographischen Literaturrichtungen hat Alt Lit keine nennenswerten Theatertexte hervorgebracht, auffallend ist jedoch, dass es auch nur eine geringe Zahl an Romanen gibt, die eigentlich klassische Erzählform autobiographischen Schreibens. Neben Tao Lins und Ben Brooks’ Romanen zählt hierzu noch Guillaume Morissettes Roman »New Tab«, der 2014 veröffentlicht wurde, im selben Jahr wie die beiden maßgeblichen Alt-Lit-Anthologien »The Yolo Pages« und »40 Likely to Die Before 40«.

Dass keine weiteren Alt-Lit-Anthologien folgten, hängt maßgeblich mit einer Debatte zusammen, die im September 2014 ihren Ausgangspunkt nahm, als auf Medium.com der Text »We don’t have anything to do« von Sophia Katz veröffentlicht wurde. Wie Calloway berichtet die zwanzigjährige Autorin von einem Aufenthalt in New York und dem Zusammensein mit einem neun Jahre älteren, »Stan« genannten, Autor und Redakteur eines Alt-Lit-Magazins, dem sie vorwarf, sie im Laufe ihres einwöchigen Aufenthalts dreimal zum Sex gezwungen zu haben. In der Folge erhoben weitere Frauen Vorwürfe und die Debatte weitete sich auf mehrere männliche Autoren und Redakteure der New Yorker Alt-Lit-Szene aus. Zur gleichen Zeit meldete sich auch E.R. Kennedy, die heute als Mann lebende ehemalige Freundin Tao Lins zu Wort, der die weibliche Hauptfigur in Tao Lins Roman »Richard Yates« nachempfunden ist. In einer Serie von Tweets warf Kennedy, der während der Beziehung mit Lin erst sechzehn Jahre alt gewesen war, Lin emotionale und künstlerische Ausbeutung und sexuelle Nötigung (»sexual assault«) vor. Die anschließende Diskussion wurde heftig geführt, viele Autorinnen und Autoren meldeten sich mit kontroversen Ansichten zu Wort, für die sie mitunter ebenso übel beschimpft wurden wie die inzwischen mit Klarnamen genannten vermeintlichen Täter und Opfer. »Shitstorms« trafen fast alle Beteiligten und ließen niemanden aus.

Innerhalb weniger Wochen hatte sich das einst hippe Label in ein Schimpf- und Tabuwort verwandelt, wobei Alt Lit auch schon früher starker Kritik ausgesetzt war. Die Schreibweisen und Verfahren galten als flach und anspruchslos, man warf den Texten Trivialität und erzählerische Langeweile vor und den Autoren Selbstverliebtheit. Andere deuteten Alt Lit als digitale Elendsliteratur und Zeichen einer Wohlstandsverwahrlosung einer vornehmlich weißen Autorenschicht. Kritik kam auch schon von Alt-Lit-Autoren selber, wie etwa Gabby Bess’ Plädoyer gegen den Dokumentarismus Megan Boyles, so dass es viele als Erleichterung empfanden, als im Dezember 2014 das »Ende« von Alt Lit ausgerufen wurde und das Label ersatzlos gestrichen wurde. Heutzutage halten nur noch wenige Autoren an dem Label fest, meist in trotzig selbstironischer Weise, aber auch wenn das Label verschwunden sein mag, die zugehörige Literatur und ihre Errungenschaften sind es nicht.

Diese Ausgabe der metamorphosen möchte die Vielfalt der Schreibweisen und Themen von Alt Lit darstellen und konzentriert sich dabei vor allen Dingen auf die (semi-)autobiographischen Elemente. Die Schwierigkeiten einer gedruckten Anthologie mit Texten, von denen die meisten für das Internet entstanden sind, ist, dass sie diese nur eingeschränkt abbilden kann und auf Links, beigefügte Fotos und Kommentare verzichten muss. Insofern sei ein Nach- und Weiterlesen der Texte im Internet ausdrücklich empfohlen. Der Band spannt den Bogen von vier Gedichten aus Tao Lins erstem Gedichtband »you are a little bit happier than i am« (2006) hin zu den Erzählungen, Gedichten und Journaleinträgen von Sofia Banzhaf, Memeoji und Adeline S. Manson, die allesamt keine Alt-Lit-Autorinnen sind, deren Texte und Schreibweisen allerdings in entscheidender Weise von ihr geprägt wurden.

Der Titel dieser Ausgabe ist eine Kombination aus zwei Schlüsseltexten der Alt Lit, die auch in diesem Band abgedruckt sind: Megan Boyles »Mit wem ich bisher Sex hatte« und Jordan Castros »Alle meine Ex-Dealer«. Der Titel impliziert einen Beziehungsbruch und weist auf die Lesart autobiographischer Texte als Literatur des Verrats hin – er lässt sich aber auch als düstere Prophezeiung lesen, als Bedrohung einer globalisierten Literatur, deren Strukturen und Netzwerke auf Reise- und Kommunikationsfreiheit und deren Texte auf geistiger Freiheit gründen und die durch Nationalismus und Populismus akut gefährdet sind. Mögen aus Freunden keine Ex-Freunde werden!

Mein Dank zum Schluss gilt allen Autoren und Übersetzern sowie den Redakteuren der metamorphosen, die weit über den Globus verstreut sind, und ganz besonders Alexandra Gerstner und Valentine A. Pakis.

Marc Degens, März 2017, Toronto

Call For Papers

Call For Papers: Arbeit

Unsere nächste Ausgabe widmen wir dem scheinbar alltäglichsten Thema unserer Gesellschaft: der Arbeit. Doch die ist nicht so einfach zu greifen: In vielen (aber nicht allen) Bereichen verliert die klassische Trennung von Arbeit und Freizeit ihre Bedeutung. Immer öfter wird Freizeit zu Arbeit, sieht Arbeit wie Freizeit aus. Gleichzeitig hat es den Anschein, als wäre die Arbeit in der gegenwärtigen Literatur die große Abwesende. Sie findet irgendwo im Hintergrund statt und bestimmt weder Figuren noch Form. Ob nun der soziale Hintergrund der AutorInnen der Grund dafür ist, oder ob das Schreiben über Arbeit gegenwärtig größere Probleme hat – wir wollen es wissen. Wir wollen wissen, wer momentan wie über Arbeit schreibt. Wir suchen nach Texten aus den Räumen, in denen wahlweise Schutzkleidung getragen oder auf die Bildschirme von MacBooks gestarrt wird. Wir suchen nach Antworten auf die Frage, ob Software Development und Dampfmaschine poesiefähig sind.

Einsendeschluss ist der 1. Juni 2017: redaktion@metamorphosen-magazin.de.

Release Nr. 17

 

»Alle meine Ex-Freunde«

Am 2. Mai stellen wir in der Fahimi Bar unsere Sonderausgabe vor.

Die Nr. 17 zu Alt-Lit und New Sincerity. Mit Texten von u.a. Tao Lin, Megan Boyle, Jordan Castro, Elizabeth Ellen und Guillaume Morissette, übersetzt von u.a. Tobias Amslinger, Ann Cotten, Clemens J. Setz, und Ron Winkler. Gastherausgeber Marc Degens stellt in Wort und Bild die Ausgabe vor. Es liest u.a. Sarah Berger; es gibt neue Texte, neue Hefte, Musik & die Bar.

Fahimi Bar, 2. Mai, Ab 20 Uhr

Eintritt: 4 Euro


Nr. 17 »Alle meine Ex-Freunde«, Inhalt

Beach Sloth, Ann Cotten (Übs.): Hey, Du

Marc Degens: Alle meine Ex-Freunde (Editorial)

Megan Boyle, Lukas Valtin (Übs.): Mit wem ich bisher Sex hatte

Tao Lin, Ron Winkler (Übs.): Ich will ne eigene Band

Jordan Castro, Michael Watzka (Übs.): Alle meine Ex-Dealer

Spencer Madsen, Clemens J. Setz (Übs.): Gedichte & Interview

Elizabeth Ellen, Michael Watzka (Übs.): wie leben

Memeoji, Marc Degens u.a. (Übs.): Wie du Freunde verlierst und niemanden beeinflusst

Sofia Banzhaf, Michael Watzka (Übs.): Zauberponyschlösschen

Guillaume Morissette, Moritz Müller-Schwefe (Übs.): Festtagsleseblogding 2015

Stacey Teague, Moritz Müller-Schwefe (Übs.): heulblog juli

Nadia de Vries, Marc Degens (Übs.): Interview

Adeline S. Manson, Tobias Amslinger (Übs.): Geheimer Blog

 

Schreibwerkstatt Prosa, HU Berlin

Rainald Goetz würde sagen: »Klar: daß man als Schreibender immer Sozialmönch, das heißt maximale Asozialität darstellt, daß man sich nie reality, immer nur Sprache, zu viel Ego, zu wenig Welt durch den Kopf zieht. Klar aber auch, daß man zur maximal sozialen Schreibwerkstatt der metamorphosen und Nocthene gehen kann, gehen will, gehen muss.«

Im April geht die Schreibwerkstatt der metamorphosen und Nocthene an der Humboldt-Universität Berlin in ihre zweite Runde. Es werden alle drei Wochen kurze bis mittellange Prosatexte verfasst und anschließend diskutiert und reflektiert. Die Schreibwerkstatt richtet sich an junge Schreibende. Es geht um Fragen des Stils, der Handlung, des guten Handwerks. Wir wollen wissen, warum gute Texte gut sind und wie man weniger gute Texte besser machen kann. Und warum es so schwierig ist, sich darauf zu einigen, was »gut« überhaupt heißt.

Die Nocthene ist eine literarische Plattform, die an den Universitäten in Düsseldorf, Freiburg und Berlin Schreibwerkstätten veranstaltet. Darin entstandene Texte werden regelmäßig im Nocthene-Magazin veröffentlicht. Die metamorphosen sind ein Berliner Literaturmagazin mit studentischer Redaktion. Das Magazin erscheint alle drei Monate im Berliner Verbrecher Verlag.

Wer Interesse hat, schickt uns eine E-Mail mit einer Textprobe im Anhang an berlin@nocthene.de. Bewerbungsschluss ist der 10. April. Die Teilnehmerzahl ist auf zwölf begrenzt.

Nochmal auf einen Blick:

Was? Schreibwerkstatt Prosa

Wo? Humboldt-Universität zu Berlin

Wann? Ab Montag, dem 24. April, alle drei Wochen, 17-20 Uhr

Wie viele? Teilnehmerzahl ist begrenzt auf 12

Und jetzt? Bewerbungsmail mit Textprobe bis einschließlich 10.4. an berlin@nocthene.de schicken

»Der Fortschritt schreitet unaufhaltsam fort«

Über Paul Gurks vergessene Dystopie Tuzub 37

von Benjamin Fiechter

Dass der Name Paul Gurk heute niemandem geläufig ist, hat einen einfachen Grund: Der 1921 mit dem Kleist-Preis ausgezeichnete Autor erzielte zeit seines Lebens keine großen Publikumserfolge. Neben zwei Berlin-Romanen (Berlin, 1934; Laubenkolonie Schwanensee, 1949) und einem über das Berliner Verbrecherbrüderpaar Sass (Tresoreinbruch, 1935) wurde auch Tuzub 37: Der Mythos von der grauen Menschheit oder von der Zahl 1 (1935) in den 80er-Jahren wieder aufgelegt, blieb aber wie schon zu Lebzeiten Gurks (1880-1953) ohne kommerziellen Erfolg.

An seinem dystopischen Roman Tuzub 37 lässt sich feststellen, dass zumindest in diesem Buch genügend formale Gründe vorhanden sind, die den Erfolg bei einer breiten Leserschaft verhindert haben. Da sind die 26 Kapitel, alphabetisch durchgezählt, die häufig nicht unmittelbar zusammenhängen und wegen der ständigen Wiederholungen auch als Episoden lesbar sind. Da ist die Hauptfigur, die erst nach der Hälfte des Romans in Erscheinung tritt und dann auch noch vorzeitig stirbt. Da ist die überausführliche Einführung in die Romanwelt, in der sich der Held Renu später als einziges denkendes und fühlendes Wesen wiederfindet.

Die Menschheit hat sich nämlich in Tuzub 37 auf dem Weg ihres Fortschritts dazu entschlossen, selbst zur Maschine zu werden. Aus den »Maschinenmenschen« sollen im Laufe der Handlung »Menschenmaschinen« und schließlich »Maschinenmaschinen« werden: »Dies aber ist das Ziel: Materialewigkeit des Metallers, Materialewigkeit des Grauen, Aufhebung der Zeit, Gleichsetzung der Zahl 1 mit unendlich und ewig, Selbstaufhebung des Wortes, des Begriffs […] durch die Zahl 1!« Es geht um nicht weniger als die Abschaffung des Denkens, der Gefühle, ja auch der Geschichte und jeder Art der Aufzeichnung. Und wer nicht ins Schema passt, wird »abgerostet«, was bedeutet: »ins Anorganische überführt«. Lediglich im »Schaugefängnis der letzten lebendigen Wesen« sind noch ein paar wenige Tiere, Pflanzen und die beiden letzten fühlenden Menschen verblieben. Ansonsten hat sich das »graue Geschlecht« die ganze Welt Untertan gemacht, indem es die gesamte Erdoberfläche platt gewalzt und mit Hochhäusern, Produktionsstätten und Feldern bebaut hat. Schließlich werden auch die Meere vernichtet; lediglich der Himalaya widersteht zunächst noch den Bemühungen um seine Einebnung.

Ebenso monoton wie die Welt der Grauen ist auch die Sprache des Romans gehalten. Sie »lebt« von ihrer extremen Reduziertheit, von häufigen Wiederholungen und einem schablonenhaften Stil: »Vollversammlung aller Grauen ist angesetzt. Unaufhörlich rollen die Untererdzüge heran. Aus den Einsteigschächten quillt es, Menschenmaschinen um Menschenmaschinen. Die Fahrräume speien sechzehn zu sechzehn aus. Sie schütteln sich rasselnd. Es klingt metallen. Die Augendeckel heben sich. Die Sehstellen werden stromvoll. Wenn sie sich aus den Einsteigschächten über die Erdfläche erheben, zucken sie den Arm rasselnd zum Gruß in die Luft. Es sieht aus, als wüchse aus den Feldern eine eiserne Saat hervor …« Aufgebrochen wird diese Uniformität der Sprache ausgerechnet durch die Figurenrede von anthropomorphisierten Tieren, Pflanzen und den vier Elementen, die den Gegenpol zu den Herrschern der Grauen bilden. Diese wiederum schaffen sich schließlich selbst ab, in der Überzeugung, überflüssig geworden zu sein. Die zu Anfang etwas irritierend wirkenden, metaphysischen Anklänge kommen gegen Ende des Romans noch einmal verstärkt zum Tragen: Das »graue Geschlecht« steht kurz davor, sich selbst zu vernichten, weil die Abgase ihrer vollmechanischen Roboter, der »Metaller«, die Menschenmaschinen zu ersticken drohen. Um den giftigen Gasen zu entkommen, die sich an der Erdoberfläche sammeln, soll ein babylonischer Turm gebaut werden, der im Plangebiet B37 liegt, wo sich ehemals der Himalaya befand. Das Buch trägt den Titel dieses Projekts: Tuzub 37.

Wie nicht anders zu erwarten, kommt es beim Turmbau natürlich zur Sprachverwirrung; dabei finden allerdings gerade die Metaller zur eigentlichen menschlichen Sprache zurück, die die Menschenmaschinen nicht mehr verstehen können, und rebellieren. Der Protagonist Renu, eine zufällige »Fehlproduktion«, hadert mit seinem Dasein als Wesen zwischen Mensch, der fühlt und denkt, und Maschine, die funktioniert wie alle anderen. Er versucht, seine »Mitbrüder« vor den Metallern zu warnen, wird aber im allgemeinen Chaos getötet. Gleichzeitig lässt eine göttliche Instanz ein grünes Gas ausströmen, das die Grauen daran hindert, sich zu verständigen. Mit dem Ruf »Gebt uns – eine Seele!« fallen die Metaller über sie her, vernichten sie, indem sie ihren wunden Punkt, die Achillesferse, zertrümmern, und löschen sich anschließend selbst aus. Am Ende liegt die Erde brach, nichts existiert mehr, bis abermals eine göttliche Instanz eingreift, ihr Handeln erklärt und die Welt noch einmal neu schafft.

Über die offensichtliche Zivilisationskritik hinaus, die den Raubbau der Menschen an der Erde und ihre Entfremdung untereinander durch eine technisierte Umwelt thematisiert, finden sich einige offensichtliche Parallelen zum Faschismus im deutschen Nationalsozialismus sowie zum Kommunismus sowjetrussischer Prägung. Zu letzterem werden insbesondere durch eine überpräsente Bürokratie, feste Arbeitszuteilungen und die unbedingte Gleichheit aller Grauen Parallelen gezogen. Die Inszenierung der Massenversammlungen, das reflexhafte Zucken des Armes zur Begrüßung und eine zu Anfang des Romans stattfindende Bücherverbrennung weisen offenkundige Gemeinsamkeiten mit dem Hitlerfaschismus auf. Bei der Lektüre entsteht so der Eindruck, alles Totalitäre bringe negative Folgen mit sich, nicht nur für den Menschen, sondern auch für seine Umwelt – kein seltener Schluss einer Dystopie, aber für ein Buch der 30er-Jahre zumindest bemerkenswert.
Zukünftig-Visionäres aber, etwa im Sinne einer späteren Realisierung der Technologien und Verhältnisse in unserer Welt, ist bei Gurk nur spärlich zu finden. Zu unwahrscheinlich scheint die grenzenlose Arbeitsbereitschaft des Menschen zu sein, als dass sie jemals Realität würde. »Immerhin« hat sich die Energiegewinnung durch Atomenergie, bei Gurk als »Atomzertrümmerung« entworfen, als selbstverständlich für spätere Generationen erwiesen. In der Kombination von Dystopie, extremer Sprachreduktion und metaphysischen Einwürfen dürfte der Roman aber so einzigartig sein, dass seine Lektüre allein deshalb lohnt.

Paul Gurk: Tuzub 37. Der Mythos von der grauen Menschheit oder von der Zahl 1.
Corian-Verlag, Meitingen 1983.
169 Seiten, nur antiquarisch erhältlich.

Im Arco Verlag wurde im Oktober 2016 mit dem Neudruck des Romans Berlin die Herausgabe der gesammelten Werke Gurks begonnen, 2017 soll zunächst der Roman Goya folgen.

Die Erde ist eine Scheibe

Auszug aus 9 Notitzen über die Wahrheit 

von Stig Sæterbakken

1

London, in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts und das erste Treffen zwischen John Hamish Watson und Sherlock Holmes, das in einem Krankenhauslabor stattfindet, wo Holmes die Tage mit – so heißt es – »planlosen und exzentrischen« Studien verbringt: Dr. Watson ist gerade aus Afghanistan heimgekehrt, um sich zu erholen, und die beiden werden einander am selben Tag von Watsons altem Studienkollegen Stamford vorgestellt, als es Holmes geglückt ist, nach unzähligen chemischen Versuchen einen Stoff herzustellen, der mit Hämoglobin und mit nichts anderem reagiert – laut dem triumphierenden Holmes die wichtigste rechtsmedizinische Entdeckung seit langem. Watson ist zu Beginn der legendären Freundschaft erstaunt  über das große Wissen seines künftigen Mitbewohners. Gleichzeitig ist er verblüfft, um nicht zu sagen schockiert, über die vielen ganz elementaren Wissenslücken bei den selbstverständlichen Dingen; was auf der Hand liegt, ist der enzyklopädische Ballast des Universalgenies. »Seine Ignoranz war so bemerkenswert wie sein Wissen«, notiert er in A Study in Scarlet. Unter anderem bemerkt Watson mit Erschrecken, dass Holmes nie von Kopernikus gehört hat und folglich keine Ahnung hat, dass die Erde um die Sonne kreist.

»But the solar system« I protested. »What the deuce is it to me?« he interrupted impatiently: »you say that we go round the sun. If we went round the moon it would not make a pennyworth of difference to me or to my work.«

Das ist umso bemerkenswerter, da Sherlock Holmes ja der Realist schlechthin ist, die Inkarnation des wissenschaftlichen Menschen, Fleisch und Blut des Rationalismus sozusagen. Gleichwohl sieht er über einige der grundlegenden Stücke der Allgemeinbildung einfach hinweg, ja, er lässt diese in manchen Fällen sogar von unhinterfragten Missverständnissen überdeckt und das, weil er so lange kein Bedürnis danach hatte, es anders zu betrachten. Während er alles, was in seinen Wirkungsbereich fällt mit knallhartem Wahrheitsanspruch bearbeitet, scheißt er auf das, was darüberhinausgeht. Der Sherlockholmsche Wahrheitsbegriff ist mit anderen Worten ausschließlich pragmatisch definiert. Die Wahrheit, das sind die Erkenntnisse über die Wirklichkeit, die du benötigst, um ein Ziel bei der Arbeit zu erreichen, in welche du dich gestürzt hast. Oder im übertragenen Sinn: das Leben, für das du dich entschieden hast oder zu dem du gezwungen bist. Alles andere kann dir egal sein. Anders ausgedrückt: Die Erde ist eine Scheibe. Bis zu dem Tag, an dem du dir etwas vornimmst, das Wissen darüber voraussetzt, dass es nicht so ist.

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Wahrheit ist eine ökonomische Frage. Und Lügen sind wie Schulden: Je mehr davon da sind, desto weniger Interesse haben Leute daran, auf sie aufmerksam zu machen. Oder: Geliehenes Geld ist verdientes Geld, wie ein bekannter norwegischer Geschäftsmann schon zitiert wurde. Aufgrund eines unbezahlten Bußgeldes wegen Falschparkens über 350 Kronen wurde mein Hausrat einmal geschätzt; eine Forderung, die ich zu begleichen unterließ, indem ich eine endlose Korrespondenz mit der Verkehrsbehörde begann, in welcher ich dem einfachen Prinzip folgte, jeder neuen und im Ton verschärften Inkasso-Drohung mit einem neuen, noch schöner formulierten Brief zu antworten. Ja, ich brachte meine ganze Wortkunst auf (in einem der letzten Briefe zitierte ich William Blakes Proverbs of Hell), allein aus dem Gedanken heraus, dass sie, solange ihnen ein unbeantworteter Einspruch immer wieder aufs Neue vorliegt, die Angelegenheit nicht als abgeschlossen verbuchen und die Schulden einkassieren können, was etwas mehr als drei Jahre funktionierte, aber auch nicht länger.
Übrigens ein fantastisches Wort: Hausrat. Ich wusste nicht, dass ich so etwas hatte, bevor sie kamen, um ihn mir zu nehmen. Hausrat. Ich habe einen Hausrat. Was ist mein Hausrat? Das muss wohl das sein, was in meinem Haus ist. Ich wohne in etwas, ich wohne in dem, was mein Hausrat ist, und das wollen sie mir jetzt bis zu einem Wert von 350 Kronen – in der Zwischenzeit war der Wert wegen aufgelaufener Gebühren und Strafsteuern auf  2000 Kronen angewachsen – nehmen. Mit anderen Worten, mein Hausrat steigt im Wert, je länger ich mich weigere, das Bußgeld zu bezahlen. Ich dachte: Wenn ich lange genug warte, werde ich vielleicht reich?
Seither erlebte ich auch, wie das Finanzamt Verspätungsgebühren auf eine zu spät bezahlte Steuernachzahlung von mir einforderte, die geringer war als die Gebühr, die meine Schuld begleichen sollte; das war im selben Jahr als der norwegische Investor Thomas Øye, der zu der Zeit mit neuen Geschäften in Dubai befasst war, über seine Anwälte in Norwegen einem Vergleich mit seinen Gläubigern zustimmte, in dem sich diese mit 1,8 Mio. Kronen statt der rund 100 Mio., die Øye ihnen schuldete, zufrieden gaben. Die Moral von der Geschichte: Leih dir genug, schwindle dreist genug, setz ausreichend viel aufs Spiel, dann interessiert es nicht länger, ob du die Verantwortung für das alles übernimmst, denn jeder kleinste Gewinn ist besser, als alles zu verlieren, und ein wenig ist immer noch mehr als gar nichts.
Das Gesetz zeigt hier seine Qualität als Straßensperre: Alle kleinen Fahrzeuge werden angehalten, die schweren Wagen aber preschen einfach hindurch.
Das sind die wahrhaftigen Proportionen der Lüge. Wir leben nicht so sehr danach, was richtig und falsch ist, sondern danach, was sich zu einer bestimmten Zeit für uns lohnt. Mach, dass es sich für viele nicht lohnt die Lüge aufzudecken, und die Welt hält die Fresse.

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Der Mythos vom Golem ist die frankensteinartige Erzählung der Juden von neuem Leben, das aus toter Materie geschaffen wird, in dem der Golem ein Mensch ist – oder ein Monster, aus Lehm gemacht –, der durch mit Hilfe Gottes durchgeführte magische Rituale lebendig und von einem damit betrauten Rabbi verstanden wird. (Die Tradition erachtet es als Zeichen von Weisheit und Heiligkeit, Macht über einen Golem zu besitzen, und im Mittelalter gibt es viele Beispiele von solchen Lehmmonstern, die mit berühmten Rabbinern in Verbindung gebracht werden.)
Es gibt diesen Mythos in vielen verschiedenen Versionen, wovon die bekannteste von dem Golem erzählt, der – so heißt es – von Rabbi Judah Loew ben Bezalel in Prag 1580 geschaffen worden war, um die Einwohner im jüdischen Viertel gegen antisemitische Angriffe zu schützen (was Gustav Meyrink als Grundlage für seinen berühmten Roman von 1915 diente), und in mehreren Versionen gibt es eine bestimmte Formel oder ein Wort, das Monster am Leben hält, sei es auf den Körper geschrieben oder als Zettel im Mund.
In einer Version ritzt der Rabbi das Wort EMET auf die Stirn des Golems. EMET ist das hebräische wort für Wahrheit. Also ist die Wahrheit das, was den Golem am Leben erhält. Wenn der Rabbi will, dass dessen Leben endet, entfernt er einfach den ersten Buchstaben, sodass nur noch MET da steht, was auf hebräisch tot bedeutet.
In dieser einfachen, aber fatalen Geste – das Wegwischen des E – kann man, wenn man will, eine grausame Pointe sehen. Denn vielleicht ist es so, dass uns das Ergebnis unserer Jagd nach Wahrheit allzu oft zum Tod der Wahrheit führt. Und dass wir vielleicht größere Chancen hätten sie zu finden, wenn wir stattdessen nach etwas anderem suchen würden.
Suche und du wirst nicht finden, heißt es. Eines der biblischen Merkmale der Werke des Teufels ist, dass sie eine Vermischung aus Lüge und Wahrheit sind, also dass der Teufel nicht notwendigerweise lügt, aber dass er lügt und über andere Wahres spricht, so dass das eine nicht zu trennen ist vom anderen. Meine Theorie darüber – falls es denn stimmt, dass es so ist – lautet, dass im Handeln des Teufels kein zynischer Wirkstoff steckt, sondern dass er, im Gegensatz zu Gott, ein Realist ist; das bedeutet, dass er die Welt und den Menschen so sieht, wie sie sind, und nicht so, wie sie eigentlich hätten sein sollen. Dadurch dass Gott, der Ideologe, noch immer auf einer idealen Welt besteht, einer ideellen Schöpfung, hat der Teufel, der Realist, oder vielmehr der Naturalist, wie ihn Perrault nannte, schon lange die Doppeldeutigkeit aller Dinge, deren Zusammengesetztheit, Unreinheit und Mangel eingesehen.
So gesehen macht der Teufel genau das, was ein Schriftsteller macht: Er mischt die Wirklichkeit und die Fiktion auf solche Weise, dass man das eine nicht mehr vom anderen unterscheiden kann, um sich so, durch das Werk, einem präziseren Verständnis von – nein, nicht Wahrheit – von Wirklichkeit zu nähern.

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Die extremste Form der Wahrheitssuche ist die Folter. Wenn wir von den Fällen absehen, in denen sie als reine Bestrafungsmaßnahme angewandt wurde, ist Folter ein Werkzeug mit klar definiertem Ziel, nämlich um Informationen aus Menschen herauszupressen, oder anders ausgedrückt: sie zu zwingen, die Wahrheit zu sagen. Gleichzeitig wissen wir, dass die Folter, lange genug angewandt, die Opfer dazu bringt, alles mögliche zu gestehen, nur um weiteren Schmerzen zu entgehen. Es ist das fantastische Paradoxon der Folter, dass das, was eine Methode sein soll, die es Menschen unmöglich macht unwahr zu sprechen, in ihrer äußersten Konsequenz die Lüge als einzige Rettung bereithält.
Wenn ein Mensch glaubt, er kenne die Wahrheit oder sei im Begriff sie zu finden –, dann ist er am gefährlichsten. Und das ist der ultimative Triumph der Folter und ihre gleichzeitige Niederlage, da das Opfer dadurch bis zum äußersten Punkt gebracht wird, dorthin, wo er oder sie dem Peiniger alle möglichen Lügen erzählt, im Augenblick, bevor er oder sie den furchtbaren Schmerzen nachgibt und stirbt. Der Golem-Mythos erinnert uns daran, dass es lediglich ein einfacher Buchstabe ist, der die Wahrheit vom Tod trennt. Such die Wahrheit, und die Wahrheit stirbt. Such die Wahrheit noch stärker, such sie mit allen Mitteln, und der Mensch stirbt.

Aus dem Norwegischen von Karl Clemens Kübler

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»Gespenster« – In unserer nächsten Ausgabe wollen wir uns der reinen Ratio verweigern und das Fantastische und Irrationale zwischen die schmalen Heftseiten bannen. Uns interessiert, wer oder was durch die Texte von jetzt geistert. Dabei sind wir auch auf der Suche nach literarischen Widergängern oder den Untoten der Popkultur, nach den Gespenstern der Vergangenheit. Wo ist zwischen den Zeilen der globalen Autobiographie und dem allgegenwärtigen Superrealismus in der heutigen Literatur der Platz für das, was nicht der Fall ist, es aber sein könnte?

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