Ein wandelndes Wurmloch mit Nachtsichtgerät

Über Lil Waynes außerirdische Tendenzen

von Joshua Groß

[Was folgt, bezieht sich auf Lil Waynes ausnahmslos genialische Phase zwischen Tha Carter II und Tha Carter III; also auf die Jahre 2006 bis 2008, in denen er vom selbsternannten best rapper alive zum nimmermüden und stets narkotisierten Außerirdischen wurde, als der er uns in seinen besten Songs auch heute noch erscheint.]

1/ Area Code 504

Natürlich gibt es unendlich viele Möglichkeiten, sich der Musik Lil Waynes zu nähern. Eine vorsichtige (aber empfehlenswerte) besteht darin, den Film Beasts of the Southern Wild (2012) zu schauen. Er zeigt einen mythischen Bundesstaat Louisiana, tief im Süden der USA: Hier befindet sich Lil Waynes Heimatstadt New Orleans; vom Hurrikan Katrina zerstört (2005), umgeben von Sumpf, Schauplatz des besten Bond-Films überhaupt (Live And Let Die, 1973), zeitweiser Aufenthaltsort von William S. Burroughs (vergleiche die Figur des Old Bull Lee in Jack Kerouacs On The Road) und eine der berüchtigten Brutstätten des Blues.

Wer genau hinhört, findet in Lil Waynes wahnwitzigen und überbordenden Lyrics immer wieder kleine Erinnerungen und Hommagen an seine Kindheit in New Orleans. Auch wenn es sich dabei meistens um Nebensächlichkeiten handelt, die in keinem ersichtlichen Zusammenhang zu den übrigen Zeilen stehen, fungieren diese Anekdoten als Wellenbrecher für die statusbetonende, überhebliche und schrankenlose Ignoranz, die sonst zu Lil Waynes tagtäglicher Attitüde gerinnen würde (wenn sie nicht sowieso zu seiner tagtäglichen Attitüde geronnen ist). In diesen Anekdoten enthüllt sich sozusagen seine Menschlichkeit (und verbindet den inszenierten Rapper mit der Realität).

Relying on rap, but in the kitchen I’m a chemist
And when I was five
My favorite movie was The Gremlins
Ain’t got shit to do with this
But I just thought that I should mention
(»Sky Is The Limit«, 2007)

I remember being young, trying to hustle my dope
Trying to tell the old junkies that my crack ain’t soap
(»Fly In«, 2005)

Back when I was pedaling my ten-speed bike
Who knew I’d be pedaling the six-speed white
(»President«, 2007)

I remember being small mane
New toys when my momma won a card game
Got my gifts before Christmas
Didn’t have to wait for them
I had a ten-speeder, scooter, and a skateboard (ha ha)
(»La La La«, 2007)

Reporting from Kim’s corner store
   
Hollygrove, 17th carnivore
    
Ridin’ through the city in a Tonka toy
    
I got old money, coulda bought a dinosaur, huh
    
(»S on my chest«, 2007)

2/ Welcome to the Concrete Jungle

Dietmar Dath schreibt über Lyrics allgemein: »Texte sind überhaupt, wie Programme bei Programmmusik, gewissermaßen stets nur das Pfeifen des semantischen, des bezeichnenden, verhältnismäßigen und deutenden Verstandes im Dunkeln des Musikalischen: lauter kleine Anker in der sprachlichen Welt der Gründe, der Ursachen und Folgen, des Vergleichens und Unterscheidens.«
Bezogen auf Rap ist diese Aussage vollkommener Unsinn. Und bezogen auf Lil Wayne steigert sich dieser Unsinn sogar noch weiter, bedenkt man, dass dessen seltsam verdrehte sprachliche Fähigkeiten die eigentliche Ausdeutung des dunklen Verstandes vornehmen. Vor dem notwendigen Hintergrund musikalischen Pfeifens.
Lil Waynes geschmeidiger Flow besteht aus Gekrächze, verzerrtem Singsang, benebelter Intuition und unsäglicher Pointiertheit (How come every joint be on point like a harpoon?). Etwaige Hochachtung vor der Musik verwandelt sich in wortverspielte Zerstörungswut (Yeah, higher than all of the angels be / And no, I never choke, but I strangle beats bzw. Cause everytime I hit a track, I’m like an energy pack / The instruments are crying out: where the sympathy at?). Es scheint, als würde Lil Wayne ein überirdisches Momentum suchen (die Worte, die das kosmische Wirrwarr unserer Existenz lösen können), um neue Galaxien zu erschaffen; Galaxien, die seine Energie speichern und in der Raumzeit festschreiben. Man könnte meinen, Lil Wayne ist in seinen luziden Träumen ein wandelndes Wurmloch mit Nachtsichtgerät. And fuck the best, nigga, I’m ’em / Bitches wanna fuck, like they’re me, and I’m them / Yeah, they share me like oxygen …


Alle möglichen Bekenntnisse, Beobachtungen und metaphysischen Spekulationen werden von Lil Wayne in einem Slang vorgenommen, der sich Außenstehenden gewissermaßen hermetisch entzieht, aber deshalb nicht weniger aufschlussreich ist, wenn man sich erstmal in den Dschungel seiner Denkstrukturen vorgearbeitet hat. Zumal auch in den Vorhallen des Hermetischen seine Ambition und sein Charisma durchwegs spürbar sind.

3/ Ihr müsst alle lernen, wie man überlebt

Rap und Blues weisen auffallende Übereinstimmungen auf; in der Herkunft (selbe Hoods, soziokultureller Background), Struktur (ein sich wiederholender, womöglich monotoner Rhythmus, darüber Gesang bzw. Sprechgesang) und Inhalt (drugs, women, gunplay, money).
Rap ist aber nicht die Evolution des Blues (und auch nicht der Blues der Postmoderne). Sondern eine ähnliche Reaktion auf eine ähnliche Lebenswirklichkeit, also grob verkürzt: afroamerikanische Verständnislosigkeit als originärer Ausdruck, angesichts der idiotischen sozialen Verhältnisse; mit dem Unterschied, dass der Blues womöglich das Selbstmitleid akzentuiert, wohingegen dem Rap hauptsächlich Wut und Aggression als Treibstoff dienen.
In seinem beachtlichen Frühwerk Signifying Rappers (1989) schreibt David Foster Wallace: »Thema, Kraft, Scharfsinn und formale Raffinesse des Rap sind das, worüber jeder schäbig gekleidete Zuschauer am Fenster ohne Außenseiterstatus einen ästhetischen Zugang zu dieser Musik suchen muss.«
Allerdings ist die Verbindung, die wir zum Rap aufbauen können, viel elementarer: Im kognitiven Kapitalismus (und beginnenden Datentotalitarismus) ist wahrhaftige Freiheit eine Farce. Und sowohl der Blues als auch der Rap (sowie der Rock’n’Roll und jedes andere ernstzunehmende Musikgenre im 20. Jahrhundert und danach auch) sind in ihrem Kern zuallererst Freiheitsbestreben. Im Rap bedeutet das: Die Sehnsucht nach Stolz und Selbstermächtigung äußert sich, leicht verzerrt, in Größenwahn, im Überlegenheitsgestus und in Kampfansagen. Und wir alle, die wir uns knietief in der psychotischen Schockstarre eines paranoiden oder eskapistischen Prekariats befinden, könnten allemal ein bisschen Stolz und Mut zur Selbstermächtigung gebrauchen (mehr denn je). Insofern kann der Rap im Jahr 2016 auch außerhalb irgendwelcher Ghettos sinnstiftend sein.

4/ Distinktionsmerkmal: to alienate

Um seinen Ausnahmestatus als best rapper alive zu illustrieren, entwickelte Lil Wayne irgendwann die Metapher der eigenen Abstammung vom Mars. Das beginnt mit einer räumlichen Verschiebung (and my mind is on another continent) und wird bald zum Ausdruck für die Lichtjahre, die angeblich zwischen ihm und der rückständigen Konkurrenz liegen.

I have no brain I’m retarded
    
We are not the same, I’m a Martian
  
(»Dough Is What I Got«, 2007)

We are not the same, I am a martian
  
(»Phone Home«, 2008)

I am just a Martian, ain’t nobody else on this planet
    
I know, see I live by my only
    
Say, where my cheese, nigga? Where my macaroni?
 
(»Seat Down Low«, 2007)

Lil Waynes Style ist am besten als stream of narcotic consciousness zu begreifen: Irrwege; Einsichten; Konfetti; Geldbesessenheit; Augenzwinkern; also umwerfende Intelligenz, unbeirrbar und achtlos abgespult, ohne Angst vor mentalem Treibgut, das womöglich in die Brandung des Beats gespült wird. Eine unnachahmliche Hirnlosigkeit beziehungsweise ein tumultartiges Zersetzen des eigenen Geistes, um alle möglichen Versionen eines Gedankens zu entlarven.
Immer high auf Sizzurp und Weed, wandelt Lil Wayne somnambul über die Instrumentals, gerade so gehalten von seinem sechsten Sinn (drink a lotta syrup, bitches say I’m sleep walkin’). – Lichtgestalt, Millionär, Kommerzschamane, Referenzkarussell, Junkie und Hure. Behangen mit Dreadlocks; einen debilen Diamantgrill im Mund; roter Lolli in der Hand. Lil Wayne ist Selbstopferung und Narzissmus.
I love brain, I need a leech: Ich liebe Blowjobs, ich brauche einen Blutegel. In einer banalen Auslegung der Biologie heißt es, Blutegel haben 32 Gehirne. Ungefähr so sind die Ecken ersonnen, um die man denken muss, wenn man Lil Waynes Kosmos wirklich begehen möchte.

5/ »I could eat them for supper, get in my spaceship and hover … «

Die Erklärungsversuche, die in der Vergangenheit für UFOs abgegeben wurden, sind breit gefächert. In früheren Zeiten betrachtete man solche Flugobjekte als Heimsuchungen oder Omen aus dem Reich des Übernatürlichen, die sowohl göttlichen als auch dämonischen Ursprungs sein konnten. In unserem technischen Zeitalter vermutet man, dass es sich bei den Insassen um Besucher aus dem All, Zeitreisende oder Botschafter von Bewohnern des Erdinnern handelt. Andere meinen, dass UFOs entweder Gedankenprojektionen oder aber das Ergebnis massenpsychologischen Wahns sind.
(Die Welt des Unerklärlichen: UFOs. Unbekannte Flugobjekte aus einer anderen Welt. Rastatt 1993)

Wie geht das alles?

Nun, mit Humor und Neugier, den beiden wichtigsten Ingredienzien der Intelligenz.

(Roberto Bolaño)