»Der Fortschritt schreitet unaufhaltsam fort«

Über Paul Gurks vergessene Dystopie Tuzub 37

von Benjamin Fiechter

Dass der Name Paul Gurk heute niemandem geläufig ist, hat einen einfachen Grund: Der 1921 mit dem Kleist-Preis ausgezeichnete Autor erzielte zeit seines Lebens keine großen Publikumserfolge. Neben zwei Berlin-Romanen (Berlin, 1934; Laubenkolonie Schwanensee, 1949) und einem über das Berliner Verbrecherbrüderpaar Sass (Tresoreinbruch, 1935) wurde auch Tuzub 37: Der Mythos von der grauen Menschheit oder von der Zahl 1 (1935) in den 80er-Jahren wieder aufgelegt, blieb aber wie schon zu Lebzeiten Gurks (1880-1953) ohne kommerziellen Erfolg.

An seinem dystopischen Roman Tuzub 37 lässt sich feststellen, dass zumindest in diesem Buch genügend formale Gründe vorhanden sind, die den Erfolg bei einer breiten Leserschaft verhindert haben. Da sind die 26 Kapitel, alphabetisch durchgezählt, die häufig nicht unmittelbar zusammenhängen und wegen der ständigen Wiederholungen auch als Episoden lesbar sind. Da ist die Hauptfigur, die erst nach der Hälfte des Romans in Erscheinung tritt und dann auch noch vorzeitig stirbt. Da ist die überausführliche Einführung in die Romanwelt, in der sich der Held Renu später als einziges denkendes und fühlendes Wesen wiederfindet.

Die Menschheit hat sich nämlich in Tuzub 37 auf dem Weg ihres Fortschritts dazu entschlossen, selbst zur Maschine zu werden. Aus den »Maschinenmenschen« sollen im Laufe der Handlung »Menschenmaschinen« und schließlich »Maschinenmaschinen« werden: »Dies aber ist das Ziel: Materialewigkeit des Metallers, Materialewigkeit des Grauen, Aufhebung der Zeit, Gleichsetzung der Zahl 1 mit unendlich und ewig, Selbstaufhebung des Wortes, des Begriffs […] durch die Zahl 1!« Es geht um nicht weniger als die Abschaffung des Denkens, der Gefühle, ja auch der Geschichte und jeder Art der Aufzeichnung. Und wer nicht ins Schema passt, wird »abgerostet«, was bedeutet: »ins Anorganische überführt«. Lediglich im »Schaugefängnis der letzten lebendigen Wesen« sind noch ein paar wenige Tiere, Pflanzen und die beiden letzten fühlenden Menschen verblieben. Ansonsten hat sich das »graue Geschlecht« die ganze Welt Untertan gemacht, indem es die gesamte Erdoberfläche platt gewalzt und mit Hochhäusern, Produktionsstätten und Feldern bebaut hat. Schließlich werden auch die Meere vernichtet; lediglich der Himalaya widersteht zunächst noch den Bemühungen um seine Einebnung.

Ebenso monoton wie die Welt der Grauen ist auch die Sprache des Romans gehalten. Sie »lebt« von ihrer extremen Reduziertheit, von häufigen Wiederholungen und einem schablonenhaften Stil: »Vollversammlung aller Grauen ist angesetzt. Unaufhörlich rollen die Untererdzüge heran. Aus den Einsteigschächten quillt es, Menschenmaschinen um Menschenmaschinen. Die Fahrräume speien sechzehn zu sechzehn aus. Sie schütteln sich rasselnd. Es klingt metallen. Die Augendeckel heben sich. Die Sehstellen werden stromvoll. Wenn sie sich aus den Einsteigschächten über die Erdfläche erheben, zucken sie den Arm rasselnd zum Gruß in die Luft. Es sieht aus, als wüchse aus den Feldern eine eiserne Saat hervor …« Aufgebrochen wird diese Uniformität der Sprache ausgerechnet durch die Figurenrede von anthropomorphisierten Tieren, Pflanzen und den vier Elementen, die den Gegenpol zu den Herrschern der Grauen bilden. Diese wiederum schaffen sich schließlich selbst ab, in der Überzeugung, überflüssig geworden zu sein. Die zu Anfang etwas irritierend wirkenden, metaphysischen Anklänge kommen gegen Ende des Romans noch einmal verstärkt zum Tragen: Das »graue Geschlecht« steht kurz davor, sich selbst zu vernichten, weil die Abgase ihrer vollmechanischen Roboter, der »Metaller«, die Menschenmaschinen zu ersticken drohen. Um den giftigen Gasen zu entkommen, die sich an der Erdoberfläche sammeln, soll ein babylonischer Turm gebaut werden, der im Plangebiet B37 liegt, wo sich ehemals der Himalaya befand. Das Buch trägt den Titel dieses Projekts: Tuzub 37.

Wie nicht anders zu erwarten, kommt es beim Turmbau natürlich zur Sprachverwirrung; dabei finden allerdings gerade die Metaller zur eigentlichen menschlichen Sprache zurück, die die Menschenmaschinen nicht mehr verstehen können, und rebellieren. Der Protagonist Renu, eine zufällige »Fehlproduktion«, hadert mit seinem Dasein als Wesen zwischen Mensch, der fühlt und denkt, und Maschine, die funktioniert wie alle anderen. Er versucht, seine »Mitbrüder« vor den Metallern zu warnen, wird aber im allgemeinen Chaos getötet. Gleichzeitig lässt eine göttliche Instanz ein grünes Gas ausströmen, das die Grauen daran hindert, sich zu verständigen. Mit dem Ruf »Gebt uns – eine Seele!« fallen die Metaller über sie her, vernichten sie, indem sie ihren wunden Punkt, die Achillesferse, zertrümmern, und löschen sich anschließend selbst aus. Am Ende liegt die Erde brach, nichts existiert mehr, bis abermals eine göttliche Instanz eingreift, ihr Handeln erklärt und die Welt noch einmal neu schafft.

Über die offensichtliche Zivilisationskritik hinaus, die den Raubbau der Menschen an der Erde und ihre Entfremdung untereinander durch eine technisierte Umwelt thematisiert, finden sich einige offensichtliche Parallelen zum Faschismus im deutschen Nationalsozialismus sowie zum Kommunismus sowjetrussischer Prägung. Zu letzterem werden insbesondere durch eine überpräsente Bürokratie, feste Arbeitszuteilungen und die unbedingte Gleichheit aller Grauen Parallelen gezogen. Die Inszenierung der Massenversammlungen, das reflexhafte Zucken des Armes zur Begrüßung und eine zu Anfang des Romans stattfindende Bücherverbrennung weisen offenkundige Gemeinsamkeiten mit dem Hitlerfaschismus auf. Bei der Lektüre entsteht so der Eindruck, alles Totalitäre bringe negative Folgen mit sich, nicht nur für den Menschen, sondern auch für seine Umwelt – kein seltener Schluss einer Dystopie, aber für ein Buch der 30er-Jahre zumindest bemerkenswert.
Zukünftig-Visionäres aber, etwa im Sinne einer späteren Realisierung der Technologien und Verhältnisse in unserer Welt, ist bei Gurk nur spärlich zu finden. Zu unwahrscheinlich scheint die grenzenlose Arbeitsbereitschaft des Menschen zu sein, als dass sie jemals Realität würde. »Immerhin« hat sich die Energiegewinnung durch Atomenergie, bei Gurk als »Atomzertrümmerung« entworfen, als selbstverständlich für spätere Generationen erwiesen. In der Kombination von Dystopie, extremer Sprachreduktion und metaphysischen Einwürfen dürfte der Roman aber so einzigartig sein, dass seine Lektüre allein deshalb lohnt.

Paul Gurk: Tuzub 37. Der Mythos von der grauen Menschheit oder von der Zahl 1.
Corian-Verlag, Meitingen 1983.
169 Seiten, nur antiquarisch erhältlich.

Im Arco Verlag wurde im Oktober 2016 mit dem Neudruck des Romans Berlin die Herausgabe der gesammelten Werke Gurks begonnen, 2017 soll zunächst der Roman Goya folgen.